Der Wert von Nährwerttabellen
Man kann sie als Taschenbuch für ein paar Mark, als richtigen "Wälzer" für ein paar Hundert Mark oder als EDV-Programm für ein paar Tausend Mark kaufen - Nährwerttabellen, die den von überflüssigen Pfunden geplagten Menschen die Durchführung einer Diät leichter machen sollen. Wer sich eine Nähwerttabelle zugelegt hat, zählt i.d.R. akribisch die verzehrten Kalorien und hegt die Hoffnung, dass 200 Kalorien weniger auf dem Teller auch 200 Kalorien weniger Körperfett bedeuten. Aber: Weit gefehlt! denn eine Kalorie ist nur mathematisch eine Kalorie.
Wie misst man eigentlich den Brennwert ?
Um den Kaloriengehalt, genauer gesagt den Brennwert von Lebensmitteln zu ermitteln, werden diese in einem Kaloriemeter verbrannt. Bei diesem Vorgang wird gemessen, wie viel Wärmeenergie dabei freigesetzt wird. Nach ein paar weiteren Umrechnungen erhält man schließlich den mathematischen Brennwert des Lebensmittels.
So weit, so gut. Der gemessene Wert spiegelt allerdings eine Genauigkeit vor, mit der so eigentlich nicht gerechnet werden kann. Das Problem sind die Lebensmittel selbst. Nicht jeder Apfel hat nämlich den errechneten Brennwert. Mancher enthält mehr, mancher weniger Kalorien pro 100 g. Dem wird in den Tabellen dadurch Rechnung getragen, dass Mittelwerte ermittelt werden. Dadurch ergibt sich bereits die erste Ungenauigkeit. Diese Ungenauigkeit kann z.T. ungeahnt hoch sein. So variiert der Vitamin C-Gehalt von Äpfeln, je nach Sorte, durchaus schon mal um den Faktor 10. Liebhaber einer bestimmten Sorte aus dem oberen bzw. unteren Bereich können daher völlig andere Mengen des Vitamins aufnehmen.
Doch das ist erst der Anfang der Ungenauigkeit.

Die Datengrundlage der Tabellen
Die Herausgeber von Nährtwerttabelen haben in der Regel nicht die Mittel, selbst alle Lebensmittel zu analysieren. Sie greifen häufig auf eine fertige Tabelle zurück. Meist ist dies der Bundeslebensmittelschlüsssel (BLS). Der BLS ist ein riesiges Tabellenwerk, in dem ca. 12.000 Lebensmittel und ganze Mahlzeiten mit ihren Nährwerten zu finden sind. Herausgegeben wird das Werk vom Bundesinstitut für gesundheitliche Aufklärung und Veterinärmedizin (bgvv). Wie sieht es nun mit der Genauigkeit dieser Tabelle aus?
In einer Presseerklärung von 1996 äußert sich das Amt selbst eher kritisch zu der Praxistauglichkeit einer älteren Version: "Durch die Anwendung unterschiedlicher Nährwerttabellen und Bezugsgewichte, durch geschätzte Portionsgrößen und willkürliche Festlegung fehlender Analysewerte konnte es in der Vergangenheit zu Abweichungen kommen, die die Aussagekraft wissenschaftlicher Arbeiten einschränken."
Die neuere Version II.2 sollte nun frei davon sein. Liest man die Presseerklärung weiter, erfährt man aber Erstaunliches: Die Werte der 12.000 Lebensmittel und Mahlzeiten aus der Tabelle basieren auf der Analyse von nur 1265 Lebensmitteln. Mit anderen Worten: Nur ein Zehntel der Daten wurde tatsächlich analysiert. Dabei dürfte sich der eine oder andere Fehler eingeschlichen haben, so dass auch das bgvv meint: "Diese daraus resultierenden Fehlermöglichkeiten und Ungenauigkeiten sind für die Auswertung von Verzehrserhebungen zwar akzeptabel, sollten aber bei der immer häufigeren Anwendung des BLS zur Berechnung strenger Diäten und Kostpläne berücksichtigt werden."

Besserung sollte es in der Version II. 3 geben. Doch auch diese Version enthält Fehler, die sogar die Auswertung von Verzehrserhebungen verfälschen können. So ergaben sich in der "Gießener Vollwertstudie" erhebliche Unterschiede in der Berechnung der Vitamin D-Aufnahme von Vegetariern, je nachdem welche Version des BLS zugrunde gelegt worden war. Nach der neuen Version hatten die meisten Vegetarier genug des sonst eher kritischen Vitamins aufgenommen, nach der alten nicht. Der Grund dafür war der falsch angegebene Vitamin D-Gehalt von Wein in der neuen Version. Ein Glas pro Tag reichte - bedingt durch die falsche Nährwertangabe - bereits schon aus, um scheinbar den Tagesbedarf an Vitamin D zu decken. Die Gefahr, die sich aus falschen Tabellengrundlagen für die Auswertung von Studien ergibt, kann man sich leicht vorstellen.

Die Tabellen im Spiegel der Zeit
Moderne Analysemethoden bringen es mit sich, dass die Werte in den Tabellen immer genauer analysiert werden können. So hat es in Bezug auf den Kohlenhydratgehalt und damit auch auf den Energiegehalt vor einigen Jahren eine nicht unerhebliche Veränderung in den Tabellen gegeben, als man der Erkenntnis Rechnung trug, dass bestimmte Ballaststoffe wie z.B. Pektin dem Körper, anders als bis dahin angenommen, doch Energie liefern. Sicher wird es in der kommenden Zeit noch weitere Erkenntnisse geben, die die Nährwerttabellen verändern werden. Dadurch werden sie zwar immer genauer, doch auch die exakteste Tabelle scheintert an der Fehlbarkeit des Menschen:

Der Faktor Mensch
In einer 1988 in Österreich durchgeführten Untersuchung wurde dies bestätigt. Dazu wurde die Tageskost übergewichtiger Jugendlicher zum einen nach Nährwerttabellen berechnet und parallel dazu im Labor analysiert. Die ermittelten Werte lagen zum Teil haarsträubend weit auseinander, so dass die Autoren zu dem Schluss kamen, dass das Errechnen des Energiegehaltes von Lebensmitteln aufgrund der großen Fehlermöglichkeiten zur Beurteilung der tatsächlichen Nahrungszufuhr nicht geeignet ist.
Dies kann, neben den erwähnten Schwachstellen in den Tabellen, natürlich auch auf den Faktor "Mensch" zurückgeführt werden. So besteht bei der Arbeit mit Tabellen immer die Gefahr, sich schlicht zu verrechnen.
Hinzu kommt, dass sich im Alltag kaum jemand über einen längeren Zeitraum die Mühe machen wird, jedes verzehrte Lebensmittel in einer Nährwerttabelle nachzuschlagen. Nährwerttabellen scheinen sich daher nicht mit der Alltag des Menschen zu vertragen.

Somit ist die Frage erlaubt, ob Nährwerttabellen im Alltag überhaupt einen Sinn haben. Haben sie! Man kann sie als "Schätzgrundlage" nutzen, um ein Gefühl für den Nährstoffgehalt von Lebensmitteln zu bekommen. Mehr benötigt man nämlich nicht, um beurteilen zu können, woher die eine oder andere Kalorie zu viel in der eigenen Ernährung herstammt.